Wo die wilden Striche wohnen
Über die Ausstellung
Kinderbücher faszinieren Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Durch ihre eigenwilligen Erzählungen, aber vor allem durch ihre vielfältigen und außergewöhnlichen Illustrationen sowie individuellen Stile sprechen sie unterschiedlichste Menschen an.
Seit dem späten 19. Jahrhundert sind Kinderbücher eine beliebte Ausdrucksform von Gestalter*innen, die hier ein Gebiet finden, in dem sie sich frei kreativ entfalten können. Oftmals entwickeln sie Erzählung und Gestaltung selbst oder illustrieren in enger Zusammenarbeit mit den Autor*innen.
Die Ausstellung zeigt ca. 180 Kinderbücher aus über 25 Ländern und spannt den Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Sie schöpft aus dem reichen Bestand des Museums, das von Beginn an internationale Kinderbücher gesammelt und in Ausstellungen gezeigt hat.
In einem ersten Teil wird die Geschichte des Kinderbuchs präsentiert, so dass nationale wie internationale Entwicklungen und Stile in der Gestaltung erkennbar werden.
Im zweiten Teil leiten vier verschiedene Prinzipien und Merkmale durch die Ausstellung: die Verwendung von Schriftzeichen oder Formen, die Einnahme spezifischer Perspektive, der besondere Einsatz von Farbe und das Arbeiten mit der 3. Dimension.
Die interaktive Ausstellungsarchitektur von Carina Deuschl macht die Bücher in häuserförmigen Vitrinen für Menschen unterschiedlicher Körpergröße erfahrbar.
Lesepulte und Lesebänke bieten Raum für das selbstständige Erkunden ausgewählter Bücher in voller Länge.
Mehrere Kommentarebenen zeitgenössischer Gestalter*innen bereichern die Ausstellung:
Großformatige Wandzeichnungen, die Christoph Niemann eigens für die Ausstellung entworfen hat, strukturieren den Raum. Sie greifen die Idee der wilden Striche auf und zeigen in immer neuen und überraschenden Variationen das Mit- und Gegeneinander von Fläche und Linie in unterschiedlichster Weise. Gleichzeitig dienen sie als Leitsystem zu den Themen der Ausstellung.
Sechs animierte Kurzfilme knüpfen an Gestaltungsansätze ausgestellter Bücher an und führen diese in neuen, eigenständigen Bilderzählungen weiter. Sie wurden von Studierenden der Münster School of Design der Fachhochschule Münster, betreut von Prof. Henning Tietz, speziell für die Ausstellung entwickelt.
Zur Ausstellung erscheint ein von Ariane Spanier gestalteter Katalog im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König. Er gibt mit über 400 Abbildungen einen Einblick, der über die ausgestellten Seiten der Bücher hinausgeht und durch Texte internationaler Expert*innen auf dem Gebiet der Kinderbuchforschung ergänzt wird.
Die Ausstellung im 2. OG ist barrierefrei zugänglich. Wir bieten einige wenige Tastangebote. Menschen mit Seheinschränkungen empfehlen wir mit Begleitperson zu kommen.
Es gibt einen Rundgang in Deutsch sowie leicht verständlicher Sprache (erreichbar über die App der Pinakothek der Moderne):
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Wo?
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Barer Straße 40, 80333 München
Öffnungszeiten
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Täglich 10:00 – 18:00
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Montags geschlossen
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Donnerstags 10:00 – 20:00
Der Audio-Walk durch die Ausstellung
Einführung
Willkommen zur Ausstellung „Wo die wilden Striche wohnen“ hier in der Neuen Sammlung, der Pinakothek der Moderne. Diese Ausstellung entführt Sie in die bunte und fantasievolle Welt der Kinderliteratur, die weit über das bloße Erzählen von Geschichten hinausgeht. Kinderbücher sind mehr als nur Texte mit Bildern – sie sind Tore zu neuen Welten, sie regen die Fantasie an, vermitteln tiefgehende Gefühle und prägen die Sichtweise der jungen Leser:innen auf die Welt.
Was Bilderbücher so einzigartig macht, sind die kreativen und oft außergewöhnlichen Illustrationen, die jedes Buch zu einem individuellen Kunstwerk werden lassen. Ihr gestalterischer Reiz liegt in der Vielzahl der illustrativen Möglichkeiten. Von den zarten, detailreichen Aquarellen über kraftvolle Linol- und Holzschnitte bis hin zu reduzierten, minimalistischen Zeichnungen, die sich auch zu Animationen oder digitalen Applikationen weiterentwickeln können – die gestalterische Bandbreite ist enorm und beeindruckend. Diese Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten macht Bilderbücher zu einem wichtigen Teil unserer Kultur und zu einem Spiegelbild der künstlerischen Entwicklungen ihrer Zeit.
In dieser Ausstellung haben wir eine Auswahl internationaler Werke zusammengestellt, die vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Jedes dieser Bücher und jede der gezeigten Illustrationen beeindruckt durch ihre kreative und anspruchsvolle Gestaltung. Sie laden nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene ein, sich von ihrer Magie verzaubern zu lassen.
Die interaktive Architektur dieser Ausstellung ermöglicht es, die Entwicklung und Vielfalt der Kinderliteratur auf spielerische Weise zu erkunden. Erleben Sie, wie sich die Kunst der Illustration über die Jahrzehnte verändert hat und wie sie immer wieder neue Wege gefunden hat, um junge Leser:innen zu begeistern und zu inspirieren.
Lassen Sie sich also ein auf diese Reise durch die Welt der Bilderbücher – eine Welt, in der es immer wieder Neues zu entdecken gibt und in der die Fantasie keine Grenzen kennt.
Spielbilderbücher
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte das dreidimensionale und interaktive Kinderbuch seinen Durchbruch. Diese Bücher sind weit mehr als bloße Geschichten – sie verbinden Erzählungen mit spielerischen Elementen. Neben Leporellos und Theaterbilderbüchern, wie sie auch hier zu sehen sind, nehmen die Spielbilderbücher von Lothar Meggendorfer einen besonderen Platz in der Entwicklung ein. Er brachte die Kunst des Spielbilderbuchs auf ein neues Niveau. Im aufgeklappten Zustand verwandeln sich seine Werke in fantasievolle Kulissen, die Kinder zum Spielen und Entdecken einladen.
„Das Puppenhaus“ ist mehr als nur ein Buch – es ist ein interaktives Spielzeug, dass Kinder in eine dreidimensionale Welt eintauchen lässt. Auf den ersten Blick scheint es ein gewöhnliches Buch zu sein, doch beim Aufklappen entfaltet sich eine vollständige Puppenhauskulisse. Meggendorfer nutzte in diesem Werk raffinierte Zieh- und Klappmechanismen, um den Figuren und Möbeln im Buch Leben einzuhauchen. Jedes Zimmer des Puppenhauses ist detailreich illustriert und mit beweglichen Elementen versehen, die es den Betrachter:innen ermöglichen, Schränke zu öffnen, Fenster zu bewegen oder sogar die Figuren im Raum agieren zu lassen. Die Entwicklung solcher Bücher erforderte nicht nur technisches Geschick, sondern auch ein tiefes Verständnis für das Lese- und Spielverhalten von Kindern, die hierdurch auf spielerische Weise in die Geschichte eintauchen konnten.
Die Gestaltung des Puppenhauses spiegelt die Liebe zum Detail wider, die Meggendorfers Arbeiten auszeichnet. Die farbenfrohen, präzisen Illustrationen wurden in der Lithografie-Technik erstellt, einer damals weit verbreiteten Druckmethode, die es ermöglichte, feine Details und kräftige Farben zu reproduzieren. Jede Seite des Buches ist sorgfältig konzipiert, um eine harmonische und ansprechende Komposition zu schaffen.
Historisch gesehen repräsentiert „Das Puppenhaus“ einen Höhepunkt in der Entwicklung des interaktiven Kinderbuchs. Meggendorfer verstand es, die Grenzen zwischen Buch und Spielzeug zu verwischen und ein Format zu schaffen, das nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch aktiv zum Spielen und Entdecken auffordert. Mit „Das Puppenhaus“ schuf Meggendorfer ein Werk, das Generationen von Kindern begeistert hat und noch heute als ein Paradebeispiel für die Verbindung von Kunst, Technik und Erzählkunst gilt.
Farbe
Die Farbe spielte seit dem späten 19. Jahrhundert eine immer bedeutendere Rolle in der Gestaltung von Bilderbüchern. Von der monochromen Reduktion bis zur farbenfrohen Vielfalt – Farbe wird gezielt eingesetzt, um visuelle Erlebnisse und erzählerische Akzente zu schaffen.
„El libro negro de los colores“ von Menena Cottin und Rosana Faría ist ein außergewöhnliches Beispiel für die kreative Nutzung von Farbe – oder besser gesagt, ihrer Abwesenheit – in Bilderbüchern. In einer Zeit, in der Farben in der Illustration eine immer größere Rolle spielten, geht „das schwarze Buch der Farben“ einen ganz anderen Weg und zeigt uns, wie Farben auch ohne visuelle Reize erlebbar werden können.
Jede Doppelseite des Buches widmet sich einer Farbe, die von Thomas, dem Erzähler, beschrieben wird. Doch statt leuchtender Farben sieht man auf den Seiten nur Schwarz. Auf der linken Seite sind kurze Texte in Brailleschrift geprägt und darunter in weißer Schrift auf schwarzem Grund gedruckt, während die rechte Seite durch fühlbare, reliefartige Illustrationen besticht. Die sanften, poetischen Worte von Menena Cottin, die die Farben beschreiben, verbinden sich mit den geprägten, fühlbaren Illustrationen von Rosana Faría zu einem perfekt inszenierten schwarz-weißen Regenbogen, der vor „Farbe“ und Sensibilität nur so explodiert.
Das „schwarze Buch der Farben“, das mittlerweile in 18 Sprachen übersetzt wurde, präsentiert auf zehn Doppelseiten verschiedene Farben. Dabei erzählt es keine fortlaufende Geschichte, sondern stellt jede Farbe als unabhängiges, jedoch fein aufeinander abgestimmtes Erlebnis dar. So folgt auf das Blau des Himmels das Weiß der Wolken und schließlich das Bunt des Regenbogens, was eine Art inneren Zusammenhang schafft, obwohl die Farben selbst nicht sichtbar sind.
Das Bilderbuch fordert die Leser:innen heraus, die Farben auf eine völlig neue Weise zu erfahren – durch Berührung, durch Vorstellungskraft, durch die Worte selbst. So beschreibt Thomas zum Beispiel die Farbe Rot als „so süß wie eine Erdbeere“, eine Metapher, die Geschmack und Emotionen miteinander verbindet. Das Blau des Himmels, das Weiß der Wolken und schließlich das Bunt des Regenbogens – all diese Farben erscheinen in der Vorstellung der Leser:innen, obwohl sie tatsächlich nicht zu sehen sind.
„El libro negro de los colores“ wurde 2007 auf der Kinderbuchmesse in Bologna mit dem ersten Preis in der Kategorie „Neue Horizonte“ ausgezeichnet und zeigt, wie Literatur und Kunst Grenzen überwinden können, um neue Wege der Wahrnehmung zu schaffen.
C1 Farbe (kurz)
Die Farbe spielte seit dem späten 19. Jahrhundert eine immer bedeutendere Rolle in der Gestaltung von Bilderbüchern. Sie wird gezielt eingesetzt, um visuelle Erlebnisse und erzählerische Akzente zu setzen. „El libro negro de los colores“ von Menena Cottin und Rosana Faría ist ein außergewöhnliches Beispiel für die kreative Nutzung von Farbe – oder besser gesagt, ihrer Abwesenheit – in Bilderbüchern. Es zeigt, wie Farben ohne visuelle Reize erlebbar werden können.
In diesem Buch widmet sich jede Seite einer Farbe, die beschrieben wird. Doch statt bunter Illustrationen ist jede Seite schwarz. Auf der linken Seite findet man den Text in Brailleschrift und gedruckt in Weiß, während die rechte Seite reliefartige, fühlbare Illustrationen zeigt. Die poetischen Worte von Cottin, die Farben beschreiben, verbinden sich mit Farías fühlbaren Bildern zu einem „schwarzen Regenbogen“, der die Sinne auf überraschende Weise anspricht.
Das Buch, das in 18 Sprachen übersetzt wurde, fordert Leser:innen heraus, Farben durch Berührung und Vorstellungskraft zu erleben. Rot wird etwa als „süß wie eine Erdbeere“ beschrieben, während das Blau des Himmels und das Weiß der Wolken durch Metaphern greifbar werden. 2007 wurde es auf der Kinderbuchmesse in Bologna mit dem „Neue Horizonte“-Preis ausgezeichnet.
Perspektive
Bilderbücher bieten oft ungewöhnliche Perspektiven, die den kindlichen Blick auf die Welt widerspiegeln. Ob durch extreme Maßstäbe oder die Vogelperspektive, die den Traum vom Fliegen aufgreift – sie laden ein, die Welt aus neuen, oft fantasievollen Blickwinkeln zu betrachten. Ein herausragendes Beispiel für ein solches Werk ist „Rules of Summer“ von Shaun Tan. Dieses außergewöhnliche Bilderbuch, das erstmals 2013 veröffentlicht wurde, führt uns in eine surreale Welt ein, die voller rätselhafter Regeln und geheimnisvoller Ereignisse steckt.
Shaun Tan, der für seine fantasievollen und tiefgründigen Werke bekannt ist, hat mit „Rules of Summer“ ein Buch geschaffen, das sich den typischen Erzählstrukturen bewusst entzieht. Statt einer linearen Geschichte präsentiert er uns eine Serie von Vignetten – kurze, oft rätselhafte Szenen mit hauptsächlich visueller Beschreibung – die von zwei Brüdern handeln. Diese beiden Figuren, die auf Tan selbst und seinem älteren Bruder als Kinder basieren, geraten in allerlei skurrile und bedrohliche Situationen, die durch eine Sammlung von „Regeln“ zusammengehalten werden. Jede Regel steht für sich, doch sie alle sind durch eine emotionale und visuelle Erzählweise miteinander verbunden. Ein zentrales Thema in „Rules of Summer“ ist die Perspektive. Tan nutzt extreme Maßstäbe, ungewöhnliche Blickwinkel und surreale Szenen, um die Welt durch die Augen eines Kindes zu zeigen – oder besser gesagt, durch die Vorstellungskraft eines Kindes. Eine der Regeln lautet zum Beispiel: „Never leave a red sock on the clothesline.“ Auf der dazugehörigen Doppelseite sehen wir, wie eine scheinbar harmlose rote Socke auf der Wäscheleine eine apokalyptische Szene heraufbeschwört, in der ein gigantischer Vogel über der Stadt schwebt. Dieser plötzliche Wechsel von der alltäglichen zur surrealen Ebene ist typisch für Tans Arbeit und macht den Reiz des Buches aus. Tan selbst beschreibt den kreativen Prozess hinter „Rules of Summer“ als langwierig und fragmentarisch. Er begann mit kleinen Skizzen und Ideenfetzen, die er über Jahre hinweg in seinen Notizbüchern sammelte. Diese Skizzen, die oft ohne eine klare narrative Struktur entstanden, dienten als Ausgangspunkt für die Vignetten, die schließlich das Buch füllen sollten. Die endgültige Entscheidung, die Erzählung loszulassen und sich auf die visuelle und emotionale Kraft der Bilder zu konzentrieren, war für Tan ein wichtiger Schritt. Er wollte den Leser:innen die Freiheit geben, ihre eigenen Interpretationen zu entwickeln und die Lücken zwischen den Bildern selbst zu füllen. Auch das Design und die Illustration des Buches spielen eine entscheidende Rolle. Tan schafft, durch die Mischung aus Pastellkreide und Ölfarben, eine lebendige und doch geheimnisvolle Atmosphäre. Die Bilder sind oft in dunklen, satten Farben gehalten, die eine bedrohliche Stimmung erzeugen, gleichzeitig aber ästhetisch ansprechend sind. Die Texte, die jeweils nur wenige Worte umfassen, sind bewusst knapp gehalten und fügen sich dezent in die Illustrationen ein, ohne diese zu dominieren. Die wiederkehrende Verwendung des Wortes „Never“ verleiht dem Buch eine gewisse Struktur, die trotz der scheinbaren Unzusammenhängigkeit der Szenen eine Art roten Faden bildet.
Raum
Bilderbücher, die den Raum spielerisch nutzen, verwandeln flache Seiten in lebendige, dreidimensionale Erlebnisse. Durch Klappmechanismen, Pop-Ups und durchbrochene Seiten entstehen Bücher, die sich stetig verändern und die Vorstellungskraft der Lesenden herausfordern. Ein herausragendes Beispiel für diese Kunstform ist „ABC 3D“ von Marion Bataille. Dieses Werk, das erstmals 2008 veröffentlicht wurde, revolutioniert das traditionelle Alphabetbuch und bringt Buchstaben auf eine völlig neue Art zum Leben.
„ABC 3D“ ist weit mehr als nur ein Alphabetbuch. Es ist eine faszinierende Mischung aus Kunst und Ingenieurskunst. Jeder der 26 Buchstaben des Alphabets wird in diesem Buch dreidimensional gestaltet, sodass die Seiten beim Umblättern zum Leben erwachen. Marion Bataille nutzt Pop-Up-Mechanismen und geschickte Falttechniken, um die Buchstaben in überraschender Weise zu verändern und zu transformieren. So wird beispielsweise aus einem „C“ durch einen einfachen Handgriff ein „D“, und das „M“ richtet sich in voller Pracht auf, während das „X“ sich mit einem schnellen Dreh in ein „Y“ verwandelt.
Die Struktur des Buches folgt einer klaren Linie, in der jeder Buchstabe eine eigene Bühne erhält, um seine Transformation zu vollziehen. Dies verleiht dem Buch eine gewisse Rhythmik, die beim Umblättern fast wie ein magisches Theaterstück wirkt. Jedes Umblättern birgt eine neue Überraschung, die das Auge fesselt und die Neugier weckt. Die scheinbar einfachen Mechanismen verbergen eine ausgeklügelte Technik, die genau auf die Wechselwirkungen zwischen den Buchstaben und den Bewegungen der Leser:innen abgestimmt ist.
Das Design von „ABC 3D“ ist ebenso auffällig wie durchdacht. Das Buch arbeitet mit einer reduzierten Farbpalette aus Schwarz, Rot und Weiß, die die visuellen Effekte der Pop-Ups noch verstärken. Die Linsenrasterfolie, limitierter Sonderausgaben, auf dem Buchcover erzeugt eine optische Täuschung, die bei jedem Neigen des Buches einen anderen Buchstaben erblicken lässt. Dieser dynamische Ansatz zieht sich durch das gesamte Werk und macht „ABC 3D“ zu einem faszinierenden Erlebnis, das die Grenzen des traditionellen Buchdesigns sprengt.
Marion Bataille, die sowohl als Grafikerin als auch als Künstlerin arbeitet, hat mit „ABC 3D“ ein Meisterwerk geschaffen, das über die reine Funktionalität eines Kinderbuchs hinausgeht. Es ist ein Kunstobjekt, das die Buchstaben des Alphabets in eine neue Dimension hebt und sie zu architektonischen Skulpturen macht. Dieses Buch ist nicht nur zum Durchblättern gedacht, sondern zum Staunen und Entdecken. „ABC 3D“ wurde vielfach ausgezeichnet, darunter als eines der besten Kinderbücher des Jahres 2009 vom „Bank Street College of Education“.
Zeichen
Das Spiel mit Schriftzeichen, Zahlen und geometrischen Formen eröffnet im Kinderbuch eine faszinierende Welt, in der einfache Symbole zu kraftvollen Erzählelementen werden. Diese Disziplin reicht von traditionellen Lehrbüchern bis hin zu experimentellen Kunstbüchern, die weit über das konventionelle Verständnis von Text und Bild hinausgehen.
Warja Lavatar-Honeggers ist eine Pionierin für diese kreative Nutzung von Zeichen des modernen Bilderbuchs. Sie revolutionierte die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden können. Ihre Bücher, die sie selbst lieber als „Imageries“ bezeichnet, lösen sich bewusst von traditionellen Erzählformen. Statt Buchstaben und Wörtern nutzt sie Piktogramme und geometrische Formen, um Märchen in ihrer Essenz zu visualisieren. In „Rotkäppchen“ stellt sie die bekannte Geschichte in minimalistischem Design dar: Ein roter Punkt symbolisiert Rotkäppchen, das sich durch einen Wald aus grünen Punkten bewegt. Der Wolf wird durch einen schwarzen Punkt dargestellt, der bedrohlich auf den roten Punkt zugeht. Durch die geschickte Platzierung und Bewegung dieser Formen auf der Seite entsteht eine visuelle Erzählung, die ohne Worte auskommt, aber dennoch den gesamten Verlauf und die emotionale Bandbreite der Geschichte vermittelt.
Das Besondere an Lavatars Ansatz ist die Art und Weise, wie sie die Geschichte als visuelles Band entrollt. Ihr Faltbuch beginnt schmal und entfaltet sich in die Weite, wodurch die Leser:innen die Handlung nicht nur als Abfolge von Ereignissen, sondern als kontinuierlichen Fluss wahrnehmen. Diese einzigartige Darstellungsform erzeugt eine erzählerische Spannung, die sich mit jedem weiteren Ausklappen des Buches steigert.
Historisch gesehen, wurde Warja Lavatar-Honegger stark von den künstlerischen Strömungen ihrer Zeit beeinflusst, insbesondere vom Bauhaus-Gedanken, den sie während ihrer Ausbildung in Zürich kennengelernt hatte. Ihre Arbeit als Grafikerin und ihre Erfahrungen in New York, einer Stadt, die für ihre künstlerische Avantgarde bekannt ist, prägten ihre visionäre Herangehensweise an das Bilderbuch. Lavatars Werke, insbesondere „Rotkäppchen“, fordern die Betrachtenden dazu auf, ihre eigene Vorstellungskraft einzusetzen und die Geschichte auf einer dadurch viel intensiveren Ebene zu erfahren. Ihre reduzierte, aber kraftvolle Bildsprache eröffnet eine neue Dimension der Narration, in der Zeichen und Formen zu den eigentlichen Protagonisten werden. So wird das Bilderbuch zu einem visuellen Erlebnis, das die Fantasie anregt und die Sinne schärft.
1900-1930
Der Beginn des modernen Bilderbuchs um 1900 markiert eine Zeit, in der Text und Bild zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen. Unter dem Einfluss von Kunstbewegungen wie dem Jugendstil wird das Kinderbuch zu einem Experimentierfeld für neue künstlerische und pädagogische Ideen, das weit über die Funktion des Lehrmittels hinausgeht. Ein herausragendes Beispiel dieser Entwicklung ist das Werk „Sonne, Mond und Sterne“ von Lore von Recklinghausen. Gestaltet im unverkennbaren Stil des Jugendstils, ist es ein Meisterwerk der Buchkunst und zeigt deutlich, wie künstlerische Strömungen der Zeit Eingang in das Kinderbuch fanden. Lore von Recklinghausen, eine der Pionierinnen auf diesem Gebiet, schuf mit „Sonne, Mond und Sterne“ ein Werk, das durch seine außergewöhnliche grafische Gestaltung und seinen innovativen Aufbau beeindruckt.
Das Buch ist ein visuelles Erlebnis, bei dem jede Seite als eigenständiges Kunstwerk betrachtet werden kann. Die Illustrationen sind reich an Ornamenten und verspielten Details, die typisch für den Jugendstil sind. Florale Muster, fließende Linien und harmonische Farbkompositionen dominieren das Design. Besonders bemerkenswert ist die Art und Weise, wie von Recklinghausen die Illustrationen in den Text integriert hat. Die Bilder sind nicht nur dekorative Elemente, sondern erzählen die Geschichte auf einer visuellen Ebene mit, indem sie die Stimmung und die Symbolik der Erzählung verstärken. Die Typografie spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in „Sonne, Mond und Sterne“. Die Schrift ist kunstvoll in die Illustrationen eingebettet und bildet eine harmonische Einheit mit den Bildern. Diese Gestaltung ist typisch für die Werke jener Zeit, in denen die Grenzen zwischen Text und Bild erstmals bewusst verwischt wurden, um eine tiefere ästhetische Erfahrung zu schaffen.
„Sonne, Mond und Sterne“ spiegelt die damaligen pädagogischen Ideen wider, die eine ganzheitliche Bildung anstrebten. Bücher wie dieses sollten nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch die ästhetische Erziehung fördern und die Fantasie anregen. Die Gestaltung des Buches lädt die Leserinnen und Leser dazu ein, die Seiten langsam zu erkunden und die Schönheit der Illustrationen zu genießen, wodurch das Lesen zu einem sinnlichen Erlebnis wird. Lore von Recklinghausen hat mit „Sonne, Mond und Sterne“ ein Werk geschaffen, das den Geist seiner Zeit einfängt und gleichzeitig zeitlos bleibt. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie das Bilderbuch Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Medium für künstlerischen Ausdruck und pädagogische Innovation wurde.
1930-2000
In der Zeit von 1930 bis 2000 entwickelt sich das Bilderbuch zu einem Medium, das zunehmend von Grafikdesigner:innen als Ausdrucksform genutzt wird. Trotz der Herausforderungen durch den Zweiten Weltkrieg und die kulturellen Einschränkungen der NS-Zeit zeigt das Bilderbuch in der Nachkriegszeit eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit und Kreativität. Es wird zum Spielplatz für innovative Gestaltungstechniken und zu einem Ort, an dem neue narrative Ansätze erkundet werden. Durch die zunehmende Globalisierung und den Einfluss verschiedener Kunstströmungen entwickelt sich das Bilderbuch zu einem vielschichtigen und oft experimentellen Medium, das die Fantasie seiner Leser:innen auf immer neue Weise anregt. Eines der bedeutendsten Bücher dieser Epoche ist „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak, das 1963 veröffentlicht wurde und seither Generationen von Leser:innen fasziniert.
Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist weit mehr als nur ein Kinderbuch; es ist ein Meisterwerk der Bild- und Erzählkunst, das die Fantasie seiner Leser:innen auf einzigartige Weise anspricht. Die Geschichte beginnt mit dem jungen Max, der in einem Wolfspelz seine Mutter ärgert und zur Strafe ohne Abendessen ins Bett geschickt wird. Doch anstatt traurig oder reumütig zu sein, taucht Max in eine Traumwelt ein, in der sein Zimmer zu einem dichten Urwald wird und er auf die wilden Kerle trifft – bizarre, furchteinflößend aussehende Kreaturen, die Sendak als eine Mischung aus verschiedenen Tieren und Fabelwesen darstellt.
Was „Wo die wilden Kerle wohnen“ so revolutionär macht, ist die Art und Weise, wie es kindliche Emotionen darstellt. Max, der kleine Rebell, wird am Ende nicht; vielmehr wird seine Wut und seine Fantasie als legitimer Ausdruck seiner Gefühle dargestellt. Die Geschichte bricht mit der traditionellen Moral der Kinderbücher, indem sie keinen erzieherischen Zeigefinger erhebt.
Die Illustrationen spielen eine entscheidende Rolle in der Erzählung. Sendak nutzt die Größe und Anordnung der Bilder, um die emotionale Intensität der Geschichte zu steuern. Während Max’ Fantasiewelt wächst, dehnen sich die Illustrationen über die Doppelseiten aus, bis die Bilder schließlich die Texte verdrängen. Diese visuelle Erzähltechnik, bei der die Bilder die Handlung fast vollständig übernehmen, war zur Zeit der Veröffentlichung ein Novum und trug maßgeblich zur emotionalen Tiefe des Buches bei.
Auch die Farbpalette ist sorgfältig gewählt. Die gedämpften, erdigen Töne schaffen eine Atmosphäre, die sowohl beruhigend als auch leicht unheimlich ist, was die Ambivalenz von Max‘ Abenteuer in der Wildnis widerspiegelt. Die wilden Kerle selbst sind gleichzeitig grotesk und liebenswert, und ihre unberechenbare Natur hält die Spannung der Geschichte aufrecht.
Historisch betrachtet, spiegelt „Wo die wilden Kerle wohnen“ den kulturellen Wandel der 1960er Jahre wider. Es ist ein Produkt einer Zeit, in der traditionelle Autoritäten hinterfragt und die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten des Einzelnen gefeiert wurden. Sedaks Arbeit beeinflusste eine ganze Generation von Autor:innen und Illustrator:innen und öffnete die Tür für Bücher, die schwierige Themen wie Angst, Wut und Einsamkeit behandelten. Es zeigt, dass Bilderbücher nicht nur unterhalten, sondern auch die Emotionen und Ängste ihrer jungen Leser:innen ansprechen können. Die Kraft dieses Buches liegt in seiner Fähigkeit, die kindliche Fantasie zu ehren und dabei die Komplexität der menschlichen Erfahrung nicht zu scheuen. Es ist ein Werk, das in jeder neuen Lesergeneration auf Resonanz stößt und weiterhin als Klassiker gefeiert wird.
2000 – 2024
Aktuell befinden wir uns in einem neuen goldenen Zeitalter des Bilderbuchs. Zeitgenössische Künstler:innen wie Oliver Jeffers führen die Tradition fort, in der Bild und Text eine harmonische Einheit bilden, und nutzen dabei eine beeindruckende Vielfalt an analogen und digitalen Techniken, um Geschichten auf innovative Weise zu erzählen. Sein Werk „Begin Again“ ist ein herausragendes Beispiel für diese Entwicklung und zeigt, wie das Bilderbuch zu einem kraftvollen Mittel geworden ist, um komplexe Ideen und Visionen für die Zukunft zu vermitteln.
„Begin Again“, veröffentlicht 2021, ist Oliver Jeffers erstes illustriertes Buch, das sich explizit an Leser:innen aller Altersgruppen richtet. Es bietet eine poetische und visuell eindrucksvolle Reise durch die Geschichte der Menschheit, Jeffers versteht sein Werk als Anregung über unsere Vergangenheit nachzudenken und neue Wege für die Zukunft zu erkunden. Mit seiner charakteristischen Kunst, die durch kräftige Farben und handgezeichnete Figuren besticht, erschafft er eine lebendige und einnehmende Welt, die sowohl abstrakt als auch zutiefst menschlich ist.
Das Buch beginnt mit einer Reflexion über die Ursprünge der Menschheit, illustriert durch minimalistische, aber kraftvolle Darstellungen von Menschen, die durch eine Welt voller Sterne, Planeten und Ozeane wandern. Jeffers verwendet eine klare, handgemalte Typografie, die sich harmonisch in die Illustrationen einfügt und in ihrer Form die Bedeutung der Worte unterstreicht. Diese Kombination aus Text und Bild erzeugt eine dynamische Erzählweise, die den Leser durch die Geschichte zieht und gleichzeitig Raum für eigene Interpretationen lässt.
Ein zentrales Thema in „Begin Again“ ist die Frage, wie die Menschheit an diesem Punkt der Geschichte angelangt ist und was wir aus unseren bisherigen Erfahrungen lernen können. Jeffers stellt fest, dass die Menschheit sich an einem Scheideweg befindet, an dem Technologie und Konsumismus das Potenzial haben, uns weiter voneinander zu entfremden. Doch anstatt eine düstere Zukunft zu zeichnen, nutzt er die Gelegenheit, um Hoffnung zu säen. Er fordert seine Leser:innen auf, die Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten und gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Die Gestaltung des Buches ist ebenso bemerkenswert wie seine Botschaft. Jeffers verwendet eine Palette aus lebendigen Rosa- und Lilatönen, die sowohl energetisch als auch ästhetisch wirken und dem Buch eine einzigartige Textur verleihen. Diese Farbwahl unterstreicht die Botschaft des Buches, dass es möglich ist, neue und unerwartete Wege zu finden, um voranzukommen.
„Begin Again“ ist ein tiefgehender Kommentar zur menschlichen Existenz. Es lädt dazu ein, über die Geschichten nachzudenken, die uns bisher geleitet haben, und darüber, welche Geschichten wir in Zukunft schreiben möchten. Jeffers’ Arbeit bietet dabei keine detaillierte Anleitung, wie wir die Herausforderungen der Gegenwart bewältigen können, sondern inspirierende Anregungen, wie ein Weg in eine bessere Zukunft beginnen könnte. Mit „Begin Again“ beweist Oliver Jeffers, dass das Bilderbuch auch im 21. Jahrhundert ein mächtiges Medium bleibt – eines, das in der Lage ist, Leser:innen jeden Alters zu berühren. Es ist ein Werk, das durch seine Einfachheit und seine künstlerische Raffinesse gleichermaßen beeindruckt und das uns alle dazu einlädt, über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken.
Fragen & Antworten
Der Besuch in der Pinakothek der Moderne kostet
regulär 10 Euro
ermäßigt 7 Euro
Sonntagseintritt 1 Euro
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben freien Eintritt.
Wir kooperieren mit Kulturraum München.
Sie können ein Ticket an der Kasse vor Ort oder online kaufen. Mehr Informationen finden Sie auf der Website der Pinakothek der Moderne.
Einen Überblick zur Barrierefreiheit in der Pinakothek der Moderne finden Sie auf der Seite von Kultur barrierefrei München.
Das Design-Museum bietet zudem im X-D-E-P-O-T eine inklusive Taststation, die alle selbstständig erkunden können.
Wir bieten eine Übersicht zu aktuellen Veranstaltungen unter Programm.
Alles weitere zu Führungen und Gruppenanmeldungen erfahren Sie über die Seite der Pinakothek der Moderne.
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Kuratiert von:
Caroline Fuchs
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Gefördert von:
PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V.